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Titel
News from Moscow. Soviet Journalism and the Limits of Postwar Reform


Autor(en)
Huxtable, Simon
Erschienen
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
$ 100.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kirsten Bönker, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Historisches Institut, Universität zu Köln

„All those who read Pravda know that the sentences which one must read with utmost attention are those that begin with odnako [jedoch, K.B.].”1 So beschrieb Vero Roberti, Korrespondent des „Corriere della Sera“, 1969 eine typische Lesestrategie, die sowjetische Zeitungsleser:innen beherrschen mussten, um Neuigkeiten oder kritische Andeutungen zu erkennen. In einem autoritären Regime, das, wie das sowjetische, beanspruchte, Medien zentral zu lenken und sie zensierte, konnten auch unscheinbare Adverbien zu Signalworten für wichtige Botschaften werden. Was bedeuteten diese Rahmenbedingungen für den sowjetischen Journalismus? Inwiefern änderten sich journalistische Praktiken, Fremd- und Selbstwahrnehmungen der Journalist:innen im Laufe von Stalins letzten Lebensjahren und mit den politischen Zäsuren der Entstalinisierung und des Tauwetters? Blieben Journalist:innen lediglich die „getreuen Transmissionsriemen“, als die sie Nikita S. Chruščev in Anlehnung an Vladimir I. Lenins Medienkonzeption verstand oder eroberten sie sich Spielräume und eigenwillige Deutungshoheiten (S. 13)?

Diese Fragen sind zentral, um die Mechanismen und Praktiken des sowjetischen Mediensystems zu verstehen. Sie sind für die poststalinistische Sowjetunion mit Ausnahme der Studie von Thomas C. Wolfe kaum untersucht worden.2 Wolfe hat allerdings ausgehend von Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität das Bild einer kommunikativen und pädagogischen Einbahnstraße vom Medium zum Publikum gezeichnet. Davon unterscheidet sich Simon Huxtables Ansatz grundlegend, indem er in seiner am Birkbeck College London entstandenen Dissertation journalistische Ideen, Praktiken und Arbeitsbedingungen anhand der maßgeblichen Jugendzeitung „Komsomol’skaja Pravda“ in ein komplexes Zusammenspiel der Presse mit Partei, Justiz und Polizei einordnet. Anders als Wolfe berücksichtigt Huxtable, wie die Journalist:innen Botschaften der Leser:innen einbanden. Außerdem nimmt er Stalins Tod im März 1953 nicht als statische Zäsur, sondern sucht jenseits des vordergründigen Bruchs nach Kontinuitäten und Wandel in den journalistischen Praktiken.

Die Quellengrundlage der Studie ist hervorragend. Zwar ist das Redaktionsarchiv der „Komsomol’skaja Pravda“ 2006 einem Feuer zum Opfer gefallen, doch es existiert eine umfangreiche Parallelüberlieferung in Partei-, Staats- und Stadtarchiven. So konnte Huxtable Protokolle der Redaktionssitzungen, der Versammlungen der Parteizelle, Korrespondenzen mit der Partei und dem Komsomol oder interne Berichte auswerten, um daraus ein lebendiges Bild des Innenlebens der Zeitung zu zeichnen.

Die „Komsomol’skaja Pravda“ ist für eine Fallstudie zur journalistischen Erneuerung nach Stalins Tod exzellent gewählt. Sie erschien seit 1925 in Moskau als unionsweites Organ des Jugendverbandes. Zum Ende der 1960er-Jahre erreichte sie eine Auflage von nahezu acht Millionen Exemplaren und galt als die drittwichtigste Zeitung des Landes. Zwar orientierten sich ihre Journalist:innen – wie alle im Land – am Vorbild der Pravda, doch erlangte die „Komsomol’skaja Pravda“ durch ihr jüngeres Publikum einen spezifischen Stellenwert in der sowjetischen Medienlandschaft. Diese Rolle erlaubte den Journalist:innen, wie Huxtable in seiner überzeugenden und spannend zu lesenden Studie herausarbeitet, die Grenzen des im Tauwetter neuerdings Sagbaren mit deutlich mehr Verve als in anderen Medien auszutesten (S. 9). Den Journalismus des Tauwetters versteht er nicht nur als ein neues ästhetisches und ethisches Gebot, sondern sehr konkret als eine Praktik, mit der die Journalist:innen in Aushandlungen mit der Partei und der Gesellschaft traten. Im Ergebnis publizierten sie eigene Vorstellungen, wie die sowjetische Moderne aussehen sollte. Mit der weiteren Professionalisierung der journalistischen Ausbildung und der Möglichkeit, in den Redaktionen und im Journalistenverband freier zu debattieren als je zuvor, entwickelte die „Komsomol’skaja Pravda“ einen solidarischen Korpsgeist, der die:den Einzelne:n bei Zensurmaßnahmen schützte und sie ihre Kreativität bewahren ließ (S. 12f.).

Gegliedert ist die Studie neben Einleitung und Epilog in drei chronologisch angeordnete Abschnitte, die den Zeitraum von 1945 bis 1970 betrachten. Teil eins nimmt die Jahre zwischen Kriegsende und Entstalinisierung in den Blick. Bis zu Stalins Tod arbeiteten die Journalist:innen in einer prekären und bedrohlichen Lage, da die rigorose Zensur häufig mit willkürlichen Repressionen einherging. Dennoch legten viele Journalist:innen bereits in diesen Jahren ihren Fokus auf das Individuum. So schenkten sie Fragen von Humanismus, Gerechtigkeit und Moral große Beachtung. Dass sich dieser Ansatz also nicht erst im Tauwetter entwickelte, zeigte sich an den Diskussionen über die Zukunft der sowjetischen Bildung Ende der 1940er-, zu Beginn der 1950er-Jahre. Als eine Zeitung, die ein junges Publikum adressierte, war die „Komsomol’skaja Pravda“ eine naheliegende Plattform. Hinzu kam, dass in der Redaktion für Schule und Jugend einige engagierte Frauen – allen voran Frida Vigdorova – arbeiteten, die Reformvorschläge präsentierten, die die Lehrerpersönlichkeit und das Schulkind als Individuum in den Mittelpunkt rückten. Andere griffen die formalistische Sprache der späten Stalinjahre an und forderten im Rahmen des Komsomol mehr spontane Rede. Damit entwickelte sich, wie Huxtable in Anlehnung an Ronald G. Suny argumentiert3, noch zu Stalins Lebzeiten ein Dialog, der Diskurs und Dogma in Bezug setzte und einen neuartigen Diskussionsraum schuf (S. 50f.).

Die „Komsomol’skaja Pravda“ verstärkte ihren kritischen Ton nach Chruščevs Geheimrede. Sie berichtete umfänglich über Verstöße gegen die Sozialistische Gesetzlichkeit, unterstützte Jugendinitiativen, die Klubs gründeten, und suchte nach Wegen, den Sozialismus ‚menschlicher‘ zu machen. Die Partei unterband diesen kritischen Ansatz jedoch ab Ende 1956 nicht zuletzt angesichts des Volksaufstandes in Ungarn. Was aber blieb, war ein neues Selbstverständnis der Journalist:innen, als „social authority“ aufzutreten und Forderungen zu formulieren, die das Handeln des Staatsapparats beeinflussten (S. 85).

Der zweite Teil untersucht, wie die Zeitung in der Chruščev-Ära von 1956 bis 1964 den Fokus auf das Individuum und die Erneuerung des Sozialismus richtete. Typisch dafür war, dass sie die Sinnsuche der jungen Menschen mit Geschichten über „romantische Helden“ unterfütterte, die die Städte verließen, um dem neuen Konsumdenken zu entfliehen. Sie folgten der Neulandkampagne, verkörperten traditionelle Werte wie Selbstaufopferung, Askese und Kameradschaft und wollten einen neuen Staat aufbauen (S. 121).

Der dritte Teil betrachtet das Jahrzehnt ab 1960 als eines, das von Optimismus und Euphorie beginnend mit dem Weltraumflug Jurij Gagarins im April 1961 geprägt war. Nun entwickelten die Journalist:innen ein neues Selbstbild als „researchers“. Sie wollten die menschliche Seele, das sowjetische Alltagsleben und die Ansichten der Menschen erforschen. Die Geschichten, die sie darüber schrieben, sollten wiederum die Psyche der Leser:innenschaft verändern (S. 155f.). Boris Grušin, einer der Gründungsväter der nach Stalins Tod erneuerten sowjetischen Soziologie, arbeitete in den 1960er-Jahre in der Propagandaabteilung der „Komsomol’skaja Pravda“. Unter seiner Ägide erforschte das „Institut der öffentlichen Meinung“ von 1960 bis 1968 die Einstellungen der sowjetischen Gesellschaft zu Themen des alltäglichen Lebens. Da die Umfrageergebnisse wiederholt die Widersprüche zwischen der Propaganda und den Wahrnehmungen der Menschen offenlegten, geriet das Institut bald unter Beschuss. Zudem konnten viele Journalist:innen die Ergebnisse nicht mit ihrem ideologischen Auftrag vereinbaren, während andere auf der Grundlage der Umfrageergebnisse versuchten, die Diskrepanzen in ihren Artikeln zu verarbeiten. Das Institut scheiterte letztlich daran, dass die stalinistische Vorstellung von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung als einer einstimmigen Kraft weiterhin einflussreich blieb.

Huxtable zeigt in seiner Studie eindrucksvoll, dass – trotz liberalisierender Tendenzen noch zu Lebzeiten Stalins – Partei und Staatsapparat ihren Anspruch auf das Meinungsmonopol nie mit gesellschaftlicher Vielstimmigkeit und Partizipation vereinbaren konnten. Dennoch ist es zu einfach, die Geschichte des sowjetischen Journalismus nach 1953 zwischen den Polen Aufstieg und Fall zu erzählen. Das Regime ließ den Zeitungen nur einen relativ fest umrissenen Spielraum, Kritik zu formulieren. Auch für die Medien galt die Übereinkunft des „little deals“ der Brežnev-Ära: Die offiziellen Sprachregeln stellten die eine Seite der Medaille dar, der regelmäßige und akzeptierte Verstoß gegen sie die andere.4 Für die Presse bedeutete dies, dass systematische Kritik an der Partei und der Regierung nicht sagbar war, dafür aber lokale Missstände, Einzelfälle oder niederrangige Sündenböcke angeprangert werden durften. Damit nahmen die Journalist:innen, wie Huxtable in Anlehnung an Natalia Roudakova und Alexey Yurchak unterstreicht, eine hybride Stellung im sowjetischen System ein.5 Sie waren zeitgleich politische und moralische Akteur:innen und agierten innerhalb wie außerhalb des Politischen. Huxtables innovative Studie zeigt nachdrücklich, wie die Journalist:innen der „Komsomol’skaja Pravda“ die ritualisierte Sphäre der ideologischen Diskurse mit ihren dynamischen Praktiken verbanden. So konnte das Lesepublikum in Aushandlungen mit dem Regime treten. Wer sich für Medien in autoritären Regimen interessiert, sollte dieses Buch lesen.

Anmerkungen:
1 Vero Roberti, Moscow under the Skin, London 1969, S. 84.
2 Thomas C. Wolfe, Governing Socialist Journalism. The Press and the Socialist Person after Stalin, Bloomington 2005.
3 Ronald Grigor Suny, On Ideology, Subjectivity, and Modernity. Disparate Thoughts on Doing Soviet History, in: Russian History/Histoire russe 35, 1-2 (2008), S. 251–258.
4 James Millar, The Little Deal. Brezhnev’s Contribution to Acquisitive Socialism, in: Slavic Review 44, 4 (1985), S. 694–706.
5 Natalia Roudakova, Losing Pravda. Ethics and the Press in Post-Truth Russia, Cambridge 2017; Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2005.

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